Adolf Reichel
106-seitige Biographie aus seinem Manuskript.

Lebenserinnerungen (1892)
Vom Schönen und vom "Eindringen des Unschönen". Die Wanderungen und Wandlungen eines Schweizer Komponisten im Europa der Romantik und der Revolution.

Nach der Handschrift herausgegeben von Mathis Reichel und Max Sommerhalder.






Kurzfassung
Der Schweizer Komponist Adolf Reichel (1816-1896)
(Max Sommerhalder)

Adolf Reichel (1816-1896) war einer der ganz wenigen Komponisten der Klassik und klassizistischen Romantik, die nicht nur in der Schweiz geboren wurden, sich dort aufhielten oder dort starben, sondern auch Schweizer sein wollten und einen Schweizer Pass besaßen, und er war keineswegs der unbedeutendste von ihnen. Dass er bis vor kurzem völlig vergessen war, hat den simplen Grund, dass der Verbleib seiner über 700 Handschriften rund hundert Jahre lang unbekannt geblieben ist. 2012 wieder aufgefunden, befindet sich Reichels Nachlass nun in der Bibliothek der Hochschule der Künste in Bern, ist im RISM online katalogisiert und Gegenstand einer Doktorarbeit.

Adolf Reichel wurde in Tursnitz in Westpreussen (heute Tursnice, Polen) in eine musikbegeisterte Gutsbesitzersfamilie geboren. Ersten Musikunterricht erhielt er in Danzig, Thorn und Berlin; dann studierte er in Berlin Komposition bei Siegfried Dehn (dem Lehrer Michail Glinkas, Peter Cornelius' und Anton Rubinsteins) und Klavier bei Ludwig Berger (dem Lehrer Mendelssohns). Nach Aufenthalten in Meiningen, Dresden, Wien, Bern und Brüssel liess er sich 1844 als Klavierlehrer und Komponist in Paris nieder, wo er Chopin und George Sand frequentierte, die Revolution von 1848 erlebte und blieb, bis er 1857 als Tonsatzlehrer am Konservatorium und Leiter der Dreyssigschen Singakademie nach Dresden berufen wurde.

Adolf Reichel war als engster Freund und langjähriger Weggefährte des russischen Anarchisten und Revolutionärs Michail Bakunin bekannt, den er 1842 in Dresden kennen gelernt hatte. Die beiden in mancher Hinsicht gegensätzlichen Männer verband eine geradezu symbiotische Abhängigkeit voneinander. In Paris führte Bakunin Reichel in einen Kreis von Oppositionellen, Revolutionären und Sozialisten ein, darunter Georg Herwegh, Heinrich Heine, Gottfried Kinkel, Karl Marx, Pierre-Joseph Proudhon und Alexander Herzen, dessen russische Freundin und Mitarbeiterin Marija Kasparowna Ern 1850 Reichels Gattin wurde. Seine Lebenserinnerungen liegen im International Institute of Social History in Amsterdam und sind ein fesselndes musikalisches und gesellschaftliches Zeitzeugnis.


„Das Überhandnehmen des preussischen Militarismus“ und die „Sehnsucht nach einem Leben auf freierem Boden“ (Zitate) veranlassten Reichel 1867, einem Ruf als Musikdirektor nach Bern zu folgen. Dort wurde er Leiter des heutigen Berner Symphonieorchesters, des Konservatoriums und - als de facto politischer Flüchtling hoch motiviert - bereits 1869 Schweizer Staatsbürger. Von Reichel und Ern stammt eine lückenlose Dynastie von Schweizer Musikern ab, die heute sechs Generationen umfasst. Dazu gehören, unter vielen anderen, Alexander Reichel (Cellist, Komponist, Bundesrichter und Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz), Henri Ern (Violinvirtuose und Professor in den U.S.A.), Helen Vita (Sängerin, Schauspielerin und Kabarettistin).

Zu Reichels Schülern gehörten August Klughardt, Jurij Golitsyn, Margarete Stern und Alexander Tanejew. Von seinen Werken wurden zu seinen Lebzeiten diverse von Bote & Bock, Breitkopf & Härtel, S. Richault und anderen renommierten Häusern verlegt. Sein Schaffen umfasst zwei vollendete Sinfonien und andere Orchesterwerke, ein Klavierkonzert, geistliche Werke für Soli, Chor und Orchester, eine Oper, Kammermusik, Klavierwerke sowie theoretische Schriften, vor allem aber eine große Zahl von Liedern. Von seinem Lehrer Dehn geprägt, war Reichel als Musiker zwar ein konservativer Geist, aber kompositionstechnisch ein Könner und eine hoch gebildete und produktive, politisch engagierte, vielseitige und interessante Musikerpersönlichkeit.